Die Suche nach den genetischen Grundlagen der evolutionären Anpassung

Forschungsbericht (importiert) 2008 - Max Planck Institut für Evolutionsbiologie

Autoren
Tautz, Diethard
Abteilungen
Evolutionsgenetik (D. Tautz) (Prof. Dr. Diethard Tautz)
MPI für Evolutionsbiologie, Plön
Zusammenfassung
Systematische Analysen, die die molekularen Mechanismen evolutionärer Anpassungen aufdecken können, sind erst seit kurzem möglich. Wissenschaftler am MPI für Evolutionsbiologie fokussieren solche Analysen auf natürliche Populationen der Hausmaus (Mus musculus). Dabei wird das Genom nach Signaturen durchsucht, die auf neue Anpassungen hindeuten. Erste Ergebnisse zeigen, dass diese viel häufiger gefunden werden können als bisher vermutet. Es besteht damit die Hoffnung, dass Experimente möglich werden, in denen natürliche Evolution von Mauspopulationen in Echtzeit beobachtet werden kann.

Evolutionäre Anpassungen

Alle Organismen sind an ihren Lebensraum angepasst, und diese Anpassungen – oder Adaptationen – sind im Laufe der Evolution entstanden. Darwin und Wallace haben vor 150 Jahren vorgeschlagen, dass die natürliche Selektion der Mechanismus ist, der zu diesen Anpassungen führt. Sie nahmen an, dass es in jeder Population eine natürliche Variation für verschiedene Merkmale gibt und dass die Individuen, deren Merkmale besser zu einer gegebenen Umweltsituation passen, im Durchschnitt eine höhere Anzahl an Nachkommen in der nächsten Generation haben werden. Somit vererbt sich ein vorteilhaftes Merkmal mit einer höheren Wahrscheinlichkeit, was letztlich zu einer optimalen Anpassung führt.

Dass dieser Mechanismus tatsächlich im Prinzip funktioniert, ist durch viele Beobachtungen und Experimente nachgewiesen worden. Insbesondere wissen wir heute sehr gut, wie die natürliche Variation entsteht, nämlich durch zufällige Mutationen in der Erbsubstanz (DNA). Allerdings wissen wir noch so gut wie gar nichts darüber, welche Gene an Adaptationsprozessen beteiligt sind. Die gesamte molekulargenetische Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich auf die Aufklärung von grundlegenden Prozessen des Zellstoffwechsels, auf die embryonale Frühentwicklung und die Aufklärung von genetischen Krankheiten konzentriert. Die evolutionsbiologische Forschung hat sich hingegen hauptsächlich populationsdynamischen Fragen zugewandt und die Aufklärung genereller Mechanismen molekularer Evolution betrieben. Erst auf dieser Basis ist es jetzt möglich geworden, eine der letzten großen ungelösten Fragen der Biologie anzugehen, nämlich die genetischen Grundlagen evolutionärer Anpassungen zu untersuchen.

Die Probleme bisher

Es gibt gleich mehrere große Hindernisse, die es schwer gemacht haben, sich dieser Frage anzunehmen. Zum einen ist zu erwarten, dass Anpassungen durch komplexes Zusammenspiel verschiedener genetischer Faktoren entstehen. Zum anderen ist die natürliche Variation für diese Faktoren in einer normalen Population vergleichsweise gering, da ja jede heute lebende Population in der Vergangenheit bereits durch viele Anpassungsprozesse gegangen ist. Tatsächlich ist es eine sehr wichtige Erkenntnis der Evolutionstheorie, dass neue Anpassungen in der Regel nur in kleinen Schritten erfolgen können. Lange dachte man zudem auch, dass Anpassungen nur über größere Zeiträume möglich sind, die außerhalb der direkten Beobachtungsmöglichkeiten eines Forschers liegen. Diese Ansicht wird allerdings zunehmend revidiert. Dennoch bleibt es sehr schwer, typische genetische Experimente zur Untersuchung von Anpassungsmerkmalen zu machen, da sie in der jeweils folgenden Generation nur einen kleinen Effekt haben und sich erst über viele Generationen ausprägen. Diese Probleme bringen es mit sich, dass das Instrumentarium der bisherigen genetischen Forschung, wie etwa künstliche Mutagenese und Kartierung von Genen, nicht ohne weiteres greift.

Um genetische Forschung betreiben zu können, muss man Techniken haben, mit denen man die Gene identifizieren kann, die an den Prozessen beteiligt sind. Im Falle von Adaptationen ist es aber schon schwer, überhaupt den Prozess einzugrenzen, den man untersuchen will. Denn für eine gegebene Population weiß man zunächst mal nicht, ob sie jetzt an spezielle Futterbedingungen angepasst ist oder erfolgreich bei der Abwehr von Parasiten ist oder besonders gut Brutstätten nutzen kann und dergleichen mehr. Man kann natürlich versuchen, jeden einzelnen dieser Aspekte gezielt zu untersuchen, aber um einen systematischen Überblick zu bekommen, muss man letztlich Wege finden, die zunächst unabhängig von den Merkmalsausprägungen sind.

Neue experimentelle Ansätze

Dank der Fortschritte in der Genomforschung ist es heute möglich, ganze Genome (also die Gesamtheit der Erbinformation in der DNA eines Organismus) zu durchmustern und nach molekularen Unterschieden zwischen Populationen zu suchen. Allerdings ist nicht jeder molekulare Unterschied auch einem Unterschied in der Merkmalsausprägung gleichzusetzen. Im Gegenteil, die Mehrzahl der Unterschiede auf der DNA-Ebene sind als neutral einzustufen, das heißt ohne Konsequenzen für Adaptationen. Die Regeln, nach denen solche neutralen Mutationen evolvieren, haben Populationsgenetiker, und insbesondere Motoo Kimura, in der Mitte des letzten Jahrhunderts erarbeitet und damit die entscheidende Basis für das Verständnis der molekularen Evolution geschaffen. Wenn man die Selektionstheorie und die neutrale Evolutionstheorie mit Meilensteinen in der Physik vergleichen will, dann entspricht erstere der Mechanik und die zweite der Quantenphysik. Auf der Basis der neutralen Evolutionstheorie ist es möglich, quantitativ statistische Aussagen zu Evolutionsprozessen zu machen, die experimentell überprüfbar sind. Dazu gehört auch die Aussage, dass Selektionsereignisse molekulare Signaturen in Populationen hinterlassen, sogenannte selective sweeps, die man aus Genomvergleichen herauslesen kann.

Was ist ein selective sweep?

Neutrale Mutationen sammeln sich gleichmäßig über alle Chromosomenregionen an. In einer Population besitzt dann mit der Zeit jedes Individuum an einer gegebenen Position mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit eine solche Mutation, wobei die Wahrscheinlichkeiten über die Formeln der neutralen Evolutionstheorie errechnet werden können. Da die Chromosomenregionen in jeder Generation neu rekombiniert werden, besitzt jedes Individuum letztlich eine einmalige Kombination solcher Mutationen (Polymorphismen). Diesen Umstand nutzt man zum Beispiel aus, um mittels des genetischen Fingerabdrucks die Identität von Individuen zu bestimmen.

Wenn aber eine der Mutationen nicht neutral ist, sondern beispielsweise wichtig für die Abwehr eines Parasiten, dann erhält diese einen Selektionsvorteil, und sie reichert sich in der Population an. Da diese Mutation aber im Kontext eines Chromosoms steht, kommt es letztlich zur Anreicherung eines ganzen Chromosomenabschnitts, inklusive der neutralen Mutationen, die auf beiden Seiten der vorteilhaften Mutation sitzen. Diese Region verliert damit ihren Polymorphismus, das heißt die verschiedenen Varianten in den Individuen gehen verloren. Im Englischen wird das bildhaft als "auskehren" oder "sweep" bezeichnet. Da dieser sweep durch positive Selektion bedingt ist, nennt man ihn selective sweep (Abb. 1). Neben dieser positiven Selektion gibt es auch negative Selektion, nämlich wenn eine Mutation von Nachteil ist, zum Beispiel wenn das Protein, das von dem Gen gebildet wird, nicht mehr funktional ist. Solche Mutationen gehen auf Dauer in der Population einfach verloren, das heißt sie lösen keinen selective sweep aus.

Anwendung in Mauspopulationen

Mit der systematischen Suche nach selective sweeps hat man ein Instrument an der Hand, mit dem man Gene identifizieren kann, die in jüngerer Zeit an Adaptationen beteiligt waren. Trotz der Fortschritte in der Genomik ist das aber immer noch ein aufwändiger Prozess, da man vorzugsweise nur mit besonders polymorphen Markern (in unserem Fall Mikrosatelliten) arbeiten sollte und jeweils viele Individuen aus einer Reihe verschiedener Populationen untersuchen sollte. In der Arbeitsgruppe von Diethard Tautz dient die Hausmaus mit ihren beiden Sub-Spezies Mus musculus domesticus (westliche Hausmaus) und Mus musculus musculus (östliche Hausmaus) als Modell für Adaptationen. Populationen dieser Sub-Spezies haben sich in den letzten Jahrtausenden in die verschiedensten Regionen auf der ganzen Welt ausgebreitet und haben damit viele lokale Anpassungen durchlaufen. Sie kommen heute von der Tundra über Wüstenregionen bis hin zu antarktischen Inseln vor. Um möglichst repräsentative Proben aus einer Population zu bekommen, fangen die Forscher jeweils circa 50 nicht-verwandte Mäuse aus einem lokalen Gebiet. Die DNA-Proben dieser Mäuse werden dann für die Untersuchungen verwendet. Bisher haben sie etwa 10 Prozent des gesamten Genoms in Populationen aus Frankreich und Deutschland sowie aus Tschechien und Kazhakstan nach selective sweeps durchsucht [1] und dabei eine Reihe von Kandidaten-Genen gefunden, die jetzt weiter funktional analysiert werden. Auf der Basis dieser Daten können die Wissenschaftler aber schon einmal eine wichtige Abschätzung machen: Im Durchschnitt kommt es in einer Population mindestens alle 50 Generationen zu einem neuen Anpassungsereignis, wahrscheinlich sogar noch öfter. [2] Diese Zahl liegt deutlich höher, als es bisher vermutet wurde, und zeigt, dass Evolutionsprozesse doch in einem Zeitrahmen liegen können, der der direkten Forschung zugänglich ist.

Ausblick

Mit der weiteren systematischen Suche nach Adaptations-relevanten Genregionen werden Tautz und sein Team schon bald einen systematischen Überblick über die Gene haben, die in Mauspopulationen wichtig sind. Parallel laufen ähnliche Arbeiten auch in anderen Laboren, wobei unter anderem auch Populationen des Menschen untersucht werden (z. B. am MPI für evolutionäre Anthropologie in Leipzig). Es wird dann möglich werden zu fragen, ob es bestimmte Genklassen gibt, die besonders oft an Anpassungen beteiligt sind. Beispielsweise könnten besonders häufig Gene betroffen sein, die an der Parasitenabwehr beteiligt sind oder bei der Erschließung neuer Lebensräume eine Rolle spielen. In der Maus lassen sich die Funktionen solcher Gene dann gezielt untersuchen. Da die Wissenschaftler für neue Genvarianten annehmen, dass sie jeweils nur geringe Effekte in einer gegebenen Generation haben werden, sollen Experimentalräume entstehen, in denen Mauspopulationen über mehrere Generationen hinweg frei gehalten und dabei beobachtet werden können. So soll dann Evolution quasi in Echtzeit gemessen werden (Abb. 2).

Originalveröffentlichungen

1.
S. Ihle, I. Ravaoarimanana, M. Thomas, D. Tautz:
An analysis of signatures of selective sweeps in natural populations of the house mouse.
Molecular Biology and Evolution 23, 790-797 (2006).
2.
M. Teschke, O. Mukabayire, T. Wiehe, D. Tautz:
Identification of selective sweeps in closely related populations of the house mouse based on microsatellite scans.
Genetics 180, 1537–1545 (2008).
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