Das Ausloten der Grenzen evolutionärer Vorhersagen

Forschungsbericht (importiert) 2018 - Max Planck Institut für Evolutionsbiologie

Autoren
Rainey, Paul B.
Abteilungen
Abteilung Mikrobielle Populationsbiologie
DOI
Zusammenfassung

Experimente im Labor und mit Wildpopulationen zeigen, dass Evolution wiederholbar und vorhersagbar ist und demnach Regeln folgen könnte. Die Arbeit mit experimentellen Bakterienpopulationen lässt vermuten, dass dabei entscheidend ist, wie der Genotyp eines Organismus‘ in einen Phänotyp umgesetzt wird. Dank mathematischer Modelle und experimenteller Evolution können Prognosen über Mutationen bis hin zu neuen adaptiven Phänotypen gemacht werden. Dabei interessiert uns, wie Mutationsraten, die sich je nach Position unterscheiden, und unterschiedliche Umwelten auf diese Prognosen auswirken.

Evolution prognostizieren

Evolutionsstudien in Wild- und Laborpopulationen zeigen, dass Evolution auf phänotypischer, genetischer und molekularer Ebene bemerkenswerterweise wiederholbar sein kann. Das bedeutet, dass die Evolution bestimmten Regeln folgen könnte [1]. Die Kenntnis dieser Regeln könnte es ermöglichen, Evolution in unserem Sinne zu beeinflussen.

Evolutionsforscher haben sich lange Zeit auf die Vergangenheit konzentriert. In den letzten Jahren hat man damit begonnen, die Genomsequenz eines bestimmten Organismus zu untersuchen und die evolutionäre Reaktion auf bestimmte selektive Bedingungen vorherzusagen - ähnlich wie heute die Sequenz von Nukleotiden, die ein Genom umfasst, Rückschlüsse auf Proteinfunktionen und Regulierungsmechanismen zulässt.

Hinweise darauf, dass dies möglich sein könnte, zeichneten sich aus dem Verständnis der Zuordnung zwischen Genotyp und Phänotyp ab. Studien mit experimentellen Bakterienpopulationen waren dabei besonders nützlich. Anhand bakterieller Populationen ist es möglich, Individuen mit identischem Genom wieder und wieder denselben Umwelteinflüssen auszusetzen und die Anpassung der Individuen an diese Umwelteinflüsse (sprich: deren Evolution), wiederholt zu beobachten. Jede Wiederholung bietet somit die Möglichkeit, das Ergebnis der Evolution - einschließlich molekularer Details - zu verstehen und diese Ergebnisse zu vergleichen.

Arbeiten mit dem Bakterium Pseudomonas fluorescens haben gezeigt, dass trotz zahlreicher möglicher Mutationen, die zu einem bestimmten Phänotyp führen, nur wenige dieser Mutationen zu beobachten sind [2]. Die detaillierte Analyse zeigt, dass dies eine Folge der unterschiedlichen genetischen Struktur ist und nicht auf unterschiedliche Fitnesseffekte zurückgeführt werden kann. Das heißt, wir finden häufig Mutationen in Genen, die die Expression anderer Gene aktiv unterdrücken. Es ist sehr selten, dass wir Mutationen beobachten, die zur Änderung einer enzymatischen Funktion führen. [3]. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass die meisten Mutationen einen Verlust der Genfunktion zur Folge haben. Wenn ein Gen, das ein anderes Gen unterdrückt, durch eine Mutation zerstört wird, wird durch die Expression des jetzt nicht mehr unterdrückten Gens ein neuer Phänotyp produziert. Daraus ergibt sich wiederum die Vorhersage, dass adaptive Phänotypen, die einer genetischen Regulation, zum Beispiel durch Transkriptionsfaktoren, unterliegen, mit höherer Wahrscheinlichkeit durch Mutationen in negativ regulatorischen Komponenten entstehen können [4].

Experimenteller Ansatz

Mithilfe des fortschreitenden theoretischen Wissens konstruierten wir mathematische Modelle bekannter Gene, in denen Mutationen zu einem bestimmten adaptiven Phänotyp führen [5]. Angesichts der Komplexität biochemischer und genetischer Faktoren wurden die Gene auf interagierende Netzwerke funktionaler Komponenten reduziert. Die Modelle dienten dabei nicht nur dazu, die von der Evolution bevorzugten Mutationen, sondern auch deren spezifische genetischen Ziele vorherzusagen.

Um unsere Prognosen zu testen, bedienten wir uns der analytischen Genetik und erhielten damit sowohl direkte Messungen der spezifischen Mutationsraten als auch eine Reihe adaptiver Mutanten [5]. Dabei stießen wir beim Vergleich der experimentellen Daten mit den Modellprognosen auf Unstimmigkeiten. Dies veranlasste uns zur Analyse von Mutationsraten und, damit verbunden, zu der Erkenntnis, dass die Rate, mit der adaptive Mutanten entstehen, stark von lokalen Erhöhungen der Mutationsrate, sogeannten Hotspots, beeinflusst wird. Mit diesem Wissen ausgerüstet war es uns dann möglich, die gemessenen Mutationsraten in unser Modell zu integrieren und so unsere Evolutionsvorhersagen zu verbessern.

Der Heilige Gral der evolutionären Prognose besteht am Ende darin, über die Prognose von Mutationszielen (Gene) und Mutationsraten hinauszugehen und neue Phänotypen vorherzusagen. Die Einzigartigkeit des Pseudomonas-Modells ermöglicht hier eine genauere Untersuchung: Adaptive Mutanten, die durch Selektion erhalten wurden, sind nur eine Teilmenge derjenigen Mutanten, die ohne Selektion erhalten wurden. Die Teilmenge der Mutanten, die in Gegenwart der Selektion - wegen ihrer schlechten Anpassung - nicht sichtbar ist, ist derzeit nicht vorhersehbar.

Ausblick

Bevor Evolution wirklich vorhersagbar wird, müssen viele Herausforderungen bewältigt werden. Wichtig für den Fortschritt sind Daten, die zeigen, was wir wissen, was wir nicht wissen, aber auch, was wir wissen müssen. Wir wissen, dass es möglich ist, durch das Verständnis von Genotyp und Phänotyp mit hoher Genauigkeit Mutationen und Raten zu prognostizieren, was einen wichtigen Fortschritt darstellt. Wir wissen aber nicht, warum sich Mutationsraten im Genom unterscheiden und können daher nicht die Effekte neuer Mutationen a priori vorhersagen. Letzteres stellt eine ganz besondere Herausforderung dar. Wir nehmen an, dass es in Zukunft möglich sein wird, aus Parametern, wie den geschätzten Auswirkungen von Mutationen auf die thermodynamische Stabilität von Enzymen, die metabolischen Netzwerke und die evolutionäre Sequenzkonservierung von Aminosäuren, Rückschlüsse auf die Fitness neuer Mutationen zu ziehen und somit Evolution tatsächlich vorhersagen zu können.

Die Vorhersage der Evolution steckt zwar noch in den Kinderschuhen, sie wird der Biologie aber zahlreiche Vorteile bieten, darunter auch die Möglichkeit, die Ergebnisse medizinisch relevanter Szenarien, wie zum Beispiel Infektionskrankheiten, Antibiotikaresistenzen, Krebs oder den Aufbau der Immunrezeptoren, vorherzusagen und diese Informationen für die Entwicklung beispielsweise von Impfstoffen zu nutzen. Über die Medizin hinaus ist die Prognose der Evolution für das Design und die gentechnische Entwicklung von mikrobiellen Populationen und Gemeinschaften für den Einsatz in Landwirtschaft und Biotechnologie von Bedeutung. Auf lange Sicht kann sich die Prognose des Evolutionsverlaufs für das Überleben des Menschens als entscheidend erweisen.

Literaturhinweise

1.
Stern, D.L.; Orgogozo, V.
Is genetic evolution predictable?
Science 323, 746-751 (2009)
2.
McDonald, M.J.; Gehrig, S.M.; Meintjes, P.L.; Zhang, X.X.; Rainey, P.B.
Adaptive divergence in experimental populations of Pseudomonas fluorescens. IV. Genetic constraints guide evolutionary trajectories in a parallel adaptive radiation
Genetics 183, 1041-1053 (2009)
3.
Rainey, P.B.; Remigi, P.; Farr, A.D.; Lind, P.A.
Darwin was right: where now for experimental evolution?
Current Opinion in Genetics and Development 47, 102-109 (2017)
4.
Lind, P.A.; Farr, A.D.; Rainey, P.B.
Experimental evolution reveals hidden diversity in evolutionary pathways
eLife 4: e07074 (2015)
5.
Lind, P.A.; Libby, E.; Herzo, J.; Rainey, P. B.
Predicting mutational routes to new adaptive phenotypes
eLife 8: e38822 (2019)
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