Der Metaorganismus aus Sicht der Mikroben

SFB 1182-Forschungsteam entwickelt theoretisches Modell zur natürlichen Selektion von Mikroben in Wirt-Mikroben-Systemen

12. Juli 2021
- Gemeinsame Pressemitteilung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie Plön -

Alle lebenden Organismen - von den einfachsten tierischen und pflanzlichen Organismen bis hin zum Menschen - leben in enger Verbindung mit einer Vielzahl von Mikroorganismen, die sich auf und in ihren Geweben ansiedeln und symbiotische Beziehungen eingehen. Heute ist klar, dass viele Lebensprozesse nur im Zusammenhang mit den Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihren Symbionten verstanden werden können. Die funktionelle Zusammenarbeit zwischen Wirt und Mikroorganismen, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Metaorganismus bezeichnen, ist daher in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkt der lebenswissenschaftlichen Forschung geworden. Sie wird an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) im Sonderforschungsbereich (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen" im Detail untersucht.

Für die Erforschung dieser Wechselwirkungen ist es von zentraler Bedeutung, das Zustandekommen und die Evolution der Symbiose von Mikroben und Organismus nachzuvollziehen. Eine gängige Annahme über den Ursprung dieser symbiotischen Beziehungen ist, dass sie primär auf einem evolutionären Vorteil für den Wirt beruhen. Ein Forschungsteam des SFB 1182 und des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön (MPI-EB) hat nun eine alternative Sichtweise zu diesem wirtszentrierten Paradigma erforscht. Darin fragen die Forschenden, wie Mikroorganismen von den Interaktionen profitieren und so die Wirte zur Optimierung ihrer Fitness ausnutzen könnten. Konkret berechneten sie, wie die Symbiose das Überleben und den Fortpflanzungserfolg der Mikroben beeinflusst. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Kiel und Plön kürzlich in der Fachzeitschrift The ISME Journal.

Fitness bedeutet mehr als nur Wachstum

Das Konzept der Fitness, also des gesamten Fortpflanzungserfolgs, der das Überleben eines evolutionären Organismenstammes sichert, wird oft auf einen einzigen Indikator reduziert: Forschende verwenden üblicherweise die Fortpflanzungsrate, um zu messen, wie erfolgreich ein Lebewesen in einem bestimmten Lebensraum ist. Für Arten mit mehrstufigen Lebenszyklen ist diese Sichtweise jedoch zu stark vereinfacht. „Jeder Schritt des Lebenszyklus trägt auf spezifische Weise zum gesamten Reproduktionserfolg bei. Das gilt insbesondere für Mikroben, die einen Teil ihres Lebenszyklus freilebend und einen anderen Teil assoziiert mit einem Wirt verbringen", betont die Erstautorin der Studie, Dr. Florence Bansept, Wissenschaftlerin am MPI-EB in Plön. "Für diese Mikroben ist es nicht nur evolutionär vorteilhaft, wenn sie sich schnell vermehren können. Vielmehr kann es ebenso entscheidend sein, dass sie in der Lage sind, zwischen Lebensräumen zu wechseln", so SFB 1182-Mitglied Bansept weiter.

Um diesen Zwiespalt evolutionärer Erfolgskriterien berechnen zu können, hat das Forschungsteam des SFB 1182 ein einfaches mathematisches Modell entworfen. Es beschreibt die Evolution eines mikrobiellen Stammes, der zwischen einem Umwelt- und einem Wirtshabitat wechselt. Dabei vermehrt er sich, wandert zwischen den Lebensräumen und seine Individuen konkurrieren miteinander. In der Natur wird diese Art von Lebenszyklus zum Beispiel von verschiedenen Bakterienarten durchlaufen, die frei in der Umwelt vorkommen, aber auch im Inneren von Fadenwürmern auftreten. "Mit unserem Modell konnten wir zeigen, dass sich Mikroben an den Lebenszyklus innerhalb und außerhalb des Wirts anpassen können, indem sie entweder die Replikationsrate oder die Migrationsrate ändern - also ihre Reproduktion oder ihre Fähigkeit, den Lebensraum zu wechseln, anpassen", erklärt Bansept.
 

Mikroben am Ursprung der Symbiose

Die neuen Ergebnisse des SFB 1182-Teams bilden damit eine wichtige konzeptionelle Grundlage, um den Einfluss der Selektion auf die Entstehung der engen Beziehungen zwischen Mikroorganismen und Wirtsorganismen besser zu verstehen. „Es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass eine wirtszentrierte Sichtweise auf Symbiosen oft falsch ist. Die Betrachtung, wie Mikroben ihre Fitness über die Lebenszyklen hinweg optimieren, könnte der Schlüssel zu einem umfassenden Verständnis der Mikrobiota-Wirt-Beziehungen sein", sagt Co-Autor Professor Hinrich Schulenburg von der Arbeitsgruppe Evolutionsökologie und Genetik an der CAU.

"Wir versuchen, gezielt die Mikroben in den Fokus zu nehmen", betont Professor Arne Traulsen, Direktor am MPI-EB in Plön und Projektleiter im SFB 1182. „Wir sehen sie als sehr mächtige Treiber für die Entstehung von Wirt-Mikroben-Assoziationen, weil sie sich aufgrund ihrer kürzeren Generationszeiten und größeren Populationsgrößen viel schneller evolvieren können", so Traulsen weiter. Um diese Theorie weiterzuentwickeln, sei es wichtig, die mikrobielle Fitness in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen, insbesondere durch die Berücksichtigung aller Schritte ihres Lebenszyklus. „An dieser Stelle kommt unsere Modellierung ins Spiel. Sie hilft uns zu verstehen, wie der Einfluss der natürlichen Selektion wirkt, auch über einen Vorteil für den Wirtsorganismus hinaus", fasst Traulsen zusammen.

Wissenschaftlicher Kontakt:

Dr. Florence Bansept
Abteilung für Evolutionstheorie
Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie, Plön
04522 763-483
bansept@evolbio.mpg.de

Prof. Arne Traulsen
Leiter Abteilung für Evolutionstheorie
Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie, Plön
04522 763-239
traulsen@evolbio.mpg.de

Prof. Hinrich Schulenburg
Leiter Arbeitsgruppe Evolutionsökologie und Genetik,
Zoologisches Institut, CAU
0431-880-4141
hschulenburg@zoologie.uni-kiel.de

Originalarbeit:
Florence Bansept, Nancy Obeng, Hinrich Schulenburg, Arne Traulsen (2021): Modeling host-associating microbes under selection. The ISME Journal Published on 22. June 2021
DOI: 10.1038/s41396-021-01039-0

Opinion Paper: Evolution of Microbiota-Host Associations: The Microbe's Perspective
DOI: 10.1016/j.tim.2021.02.005

Zur Redakteursansicht