Erbkrankheiten sind der Preis für Schutz vor Infektionen

Balancierte Selektion ist dafür verantwortlich, dass wir widerstandsfähig gegen Krankheitserreger sind, aber auch Risikogene für Krankheiten in unserem Erbgut behalten

31. August 2016

Fast die Hälfte unserer Gene können Ausgangspunkt von Erkrankungen sein: Wissenschaftler kennen heute 11.000 Gene, die in krankmachenden Varianten im menschlichen Erbgut vorkommen. Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie in Plön und der Harvard Medical School haben untersucht, warum sich solche Risiko-Gene dauerhaft im Erbgut des Menschen halten können und nicht durch die Selektion beseitigt werden. Ihre Berechnungen deuten darauf hin, dass die fortwährende Anpassung an neue Krankheitserreger im Laufe unserer Evolution zwar die Vielfalt unserer Immungene erhöht hat, aber wir dafür auch einen Preis zahlen. Diese Vielfalt erstreckt sich den Forschern zufolge nämlich auch auf benachbarte DNA-Abschnitte und führt dazu, dass dort schädliche Genvarianten bestehen bleiben.

Vielfalt im Erbgut ist etwas Gutes: Nur so konnte sich der Mensch im Laufe der Evolution an wechselnde Umweltbedingungen anpassen. Die individuellen Muster aus Genvarianten bieten nämlich vielfältige Kombinationsmöglichkeiten, die mit jeder neuen Generation entstehen und Überlebensvorteile bringen können. Neben vielen Variationen, die sich überhaupt nicht oder sogar vorteilhaft auf die Gesundheit auswirken, gibt es jedoch auch solche, die ihre Träger anfällig für bestimmte Krankheiten machen.

Diese schädlichen Genvarianten bedeuten einen Überlebensnachteil und müssten daher im Laufe der Evolution durch natürliche Selektion immer seltener werden. Stattdessen treten einige Risiko-Genvarianten, etwa für Alzheimer oder Krebs, schon seit langer Zeit in der Bevölkerung auf ohne zu verschwinden.

Die Forschergruppe um Tobias Lenz und Shamil Sunyaev hat dieses Phänomen untersucht und Hinweise darauf gefunden, dass das Vorkommen schädlicher Genvarianten der Preis für die genetische Vielfalt sein könnte, die an anderer Stelle sehr nützlich für unser Überleben ist. Sie haben eine Gruppe von Proteinen des Immunsystems analysiert, die dabei hilft, körperfremde Moleküle zu erkennen. Die Gene für diese Proteine enthalten sehr viele variable Stellen und kommen in der Bevölkerung in unterschiedlichen Varianten vor. Diese Vielfalt stellt sicher, dass unser Immunsystem viele verschiedene Erreger erkennen kann.

Eine besondere Form der Selektion hält diese Variation innerhalb der Immunproteine aufrecht: Wissenschaftler bezeichnen sie als balancierte Selektion. Sie entsteht beispielsweise, wenn verschiedene Varianten eines Gens einen Überlebensvorteil bieten und deshalb durch die Selektion nicht beseitigt werden.

Schädliche Mutationen gehen nicht verloren

Die Wissenschaftler vermuten, dass die balancierte Selektion auch dafür sorgt, dass mitunter schädliche Genvarianten erhalten bleiben. Am Computer haben sie verschiedene Arten von Selektion am Beispiel der Gene des Immunsystems nachgestellt. Dabei hat sich gezeigt, dass balancierte Selektion tatsächlich nicht nur die Vielfalt innerhalb der Immunproteine erhöht, sondern auch Auswirkungen auf benachbarte DNA-Abschnitte hat. Dort verringert sie zwar die Anzahl variabler Stellen, erhöht aber die Häufigkeit, mit der diese Varianten in der Bevölkerung auftreten – auch wenn sie schädlich sind.

Anschließend verglichen die Forscher die Ergebnisse ihrer Berechnungen mit Daten einer Erbgutanalyse von 6500 Menschen. Die Analyse bestätigte ihre Vermutung: Wie in der Simulation treten in unmittelbarere Nähe der Gene des Immunsystems zwar nur wenige variable Stellen auf, dafür sind die verschiedenen Varianten in der Bevölkerung vergleichsweise häufig und oft schädlich.

Schädliche Gene können also der natürlichen Selektion entgehen. „Ich habe durchaus erwartet, dass eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen Erreger zu einer Häufung von schädlichen Mutationen führen könnte. Aber das Ausmaß, in dem schädliche Mutationen erhalten bleiben, hat mich dann doch überrascht. Es wäre interessant zu wissen, wie viele genetisch bedingte Erkrankungen des Menschen tatsächlich auf den Kontakt mit Krankheitserregern zurückgehen, denen wir im Laufe unserer Evolution begegnet sind“, sagt Lenz, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut in Plön und Mitglied des neu gegründeten Kiel Evolution Centers.

Als nächstes wollen die Forscher prüfen, ob balancierte Selektion auch an anderen Stellen des Genoms dafür verantwortlich ist, dass schädliche Genvarianten so häufig in der Bevölkerung vorkommen.

MT/HR

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