Das kleinere Übel: Vom Beginn einer evolutionären Erfolgsstory
Unser Planet war bereits lange von Mikroorganismen besiedelt, bevor komplexere Lebewesen erstmals entstanden und sich nach und nach zur heute lebenden Tier- und Pflanzenwelt entwickelten. Das vielzellige Leben ist also von Beginn an in Anwesenheit von Mikroben entstanden, die den Verlauf der Evolution entscheidend mitgeprägt haben. Die heute vorkommenden Lebewesen wiederum existieren häufig in einem eng verknüpften, langfristigen Zusammenleben mit anderen Organismen. Diese permanenten Lebensgemeinschaften in unterschiedlichen Graden gegenseitiger Abhängigkeit werden zusammenfassend als Symbiosen bezeichnet. Auch die komplexen Verflechtungen eines Wirtslebewesens mit den auf und in seinem Körper lebenden Mikroorganismen, der sogenannte Metaorganismus, stellt eine Form der Symbiose dar. Über den evolutionären Ursprung symbiotischer Beziehungen wird allgemein angenommen, dass sie auf einem Vorteil für zumindest einen der beteiligten Organismen beruhen, der in der Folge zur Ausbildung einer stabilen Lebensgemeinschaft führte.
Die genauere Betrachtung verschiedener Symbiosen zeigt jedoch, dass es paradoxerweise auch zahlreiche Beispiele gibt, in denen Mikroben in Wirtslebewesen gehäuft vorkommen, die keinen positiven Effekt auf den Wirt ausüben. Ein Forschungsteam des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und funktionieren von Metaorganismen“ an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) schlägt daher ein neues theoretisches Modell vor, das einen alternativen Erklärungsansatz zur Entstehung solch symbiotischer Beziehungen liefert. Entgegen der bisherigen Annahme legt ihre Theorie nahe, dass einer Symbiose auch das Zusammenleben eines Wirts mit einem zunächst schädlichen Mikroorganismus zugrunde liegen könnte. Insbesondere in Anwesenheit verschiedener, nachteiliger Mikroorganismen kann es für das Wirtslebewesen dabei vorteilhaft sein, das „kleinere Übel“ zu akzeptieren und ein Zusammenleben mit einem für ihn weniger schädlichen Mikroorganismus einzugehen. Die so entstandene Koexistenz kann dann Grundlage für nachfolgende gegenseitige Anpassungen von Wirt und Mikroorganismen sein - und letztlich doch in einer vorteilhaften Wirts-Mikroben-Symbiose münden, die sich in vielen symbiotische Beziehungen als Erfolgsmodell erwiesen hat. Die Forschenden um Professor Arne Traulsen vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie (MPI-EB) in Plön und CAU-Professor Hinrich Schulenburg veröffentlichten die neuen Erkenntnisse gemeinsam mit Professorin Angela Douglas von der Cornell University in der renommierten Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS).
Mathematisches Modell zeigt möglichen Ursprung von Symbiosen
In der Natur gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass Wirtslebewesen den mit ihnen assoziierten Mikroben Vorteile bieten - und diese können wiederum ihre Wirte positiv beeinflussen. Auch der menschliche Körper und seine besiedelnden Mikroben haben sich an vielen Stellen in dieser Weise arrangiert. Wie diese Formen der Zusammenarbeit entstanden sein könnten, insbesondere wenn Wirt und Mikrobe zunächst eine unabhängige Lebensweise zeigten, ist bislang jedoch nicht ausreichend geklärt. Um dieser Frage nachzugehen, entwickelte das SFB 1182-Team ein theoretisches Modell, das die Lebenszyklen von Wirtslebewesen und Mikroben in unterschiedlichen, räumlich getrennten Lebensräumen abbildet. Anhand dieses Modells konnten die Forschenden beobachten, wie sich verschiedene Mikroorganismen in den Wirten ansiedeln, ohne dass diese einen spezifischen Vorteil für den Wirt bieten und sich in der Folge gemeinsam mit den Wirten in andere Lebensräume ausbreiten und dort anreichern.
„Wir haben modelliert, wie sich zwei unterschiedliche freilebende Bakterienarten verhalten, die mit einem noch nicht mikrobiell besiedelten Wirtslebewesen gemeinsam in einem Habitat leben“, beschreibt Erstautor Dr. Michael Sieber, Wissenschaftler in der Abteilung Evolutionstheorie am MPI-EB und SFB 1182-Mitglied. „Es kommt nach einer gewissen Zeit zu einer verstärkten Anreicherung einer der beiden Bakterienarten im Wirtslebewesen. Dabei handelt es sich um die eigentlich weniger durchsetzungsfähige, da langsamer wachsende Art, deren Anwesenheit für den Wirtsorganismus jedoch weniger nachteilig ist“, so Sieber weiter. Dieser Besiedlungsvorgang, also die dauerhafte Anreicherung des Bakteriums im Wirt, bildet dann die Voraussetzung dafür, dass das Bakterium gemeinsam mit dem Wirt weitere geeignete Lebensräume erreichen kann. In diesem zweiten, nun wirts-assoziierten Lebenszyklus können sich dann spezifischere Anpassungen zwischen Wirt und Bakterium entwickeln. „Während die Anreicherung des Bakteriums im Wirt also per se kein Indikator für eine vorteilhafte Wirt-Mikroben-Symbiose ist, kann man sie jedoch als Ausgangspunkt für die Evolution von spezifischen gegenseitigen Anpassungen betrachten. Die Wahl des geringeren Übels weist gewissermaßen den Weg zur Evolution einer für beide Seiten erfolgreichen Symbiose“, fasst Sieber zusammen.
Vom Wert theoretischer Modelle
Die neuen Ergebnisse aus der theoretischen Evolutionsforschung liefern damit einen wertvollen Baustein, um das konzeptionelle Verständnis über den Ursprung von Symbiosen zu erweitern. „Mathematische Modellierungen sind speziell bei der Erforschung des Zusammenlebens von Wirten und Mikroorganismen besonders hilfreich, um den Ausgangspunkt ihrer gemeinsamen Evolution theoretisch nachvollziehen zu können und so besser zu verstehen“, betont Traulsen, Leiter der Abteilung für Evolutionstheorie am MPI-EB. „Die neue Veröffentlichung zeigt zudem exemplarisch, wie sich im SFB 1182 die Arbeit der experimentell und der theoretisch orientierten Forschenden ergänzt, um in interdisziplinärer Zusammenarbeit neue Perspektiven über das Zustandekommen der in der Natur allgegenwärtigen symbiotischen Lebensgemeinschaften zu gewinnen“, betont Schulenburg, Vizesprecher des Sonderforschungsbereichs. „Besonders wichtig war dabei der Beitrag von Professorin Angela Douglas aus unserem wissenschaftlichen Beirat, insbesondere ihre für die Modellierungen zentralen Einsichten zur Verbreitung von symbiotischen Mikroorganismen in Insekten“, so Schulenburg weiter.