Der Lärm in der Menge:

Wie Gen-Interaktionen die Evolution der Zell-zu-Zell-Variation beeinflussen.

20. April 2023

Biologische Zellen, egal ob freilebend oder Teil eines vielzelligen Organismus, müssen Hunderte von Funktionen erfüllen, um zu überleben. Dazu zählen wie beispielsweise die Fähigkeit ihre Umwelt wahrzunehmen, Nährstoffe aufzunehmen und zu verstoffwechseln, abgestorbene Teile zu regenerieren oder sich fortzupflanzen. Die Informationen darüber, wie diese Funktionen auszuführen sind, werden von den Genen getragen und durch einen Prozess namens "Genexpression", bei dem Genprodukte hergestellt werden, praktisch umgesetzt. Diese interagieren in  einem Netzwerk, das als Gennetzwerk bezeichnet wird. Der Prozess der Genexpression ist jedoch dem Zufall unterworfen und die Expression der einzelnen Gene im Netzwerk ist nicht vorhersehbar. Wie entwickeln sich Gene in Gennetzwerken, um mit diesem inhärenten Rauschen umzugehen und gleichzeitig die Funktion des Gennetzwerks zu erhalten? Mit dieser Frage beschäftigt sich die Forschungsgruppe Molekulare System Evolution des Max-Planck-Instituts für Evolutionsbiologie.

Zellen als stochastische Maschinen

Die typische Lehrbuchdarstellung von Genen, die in wohldefinierten Netzwerken organisiert sind, erweckt den Eindruck, dass die Zelle wie eine fein abgestimmte, programmierte Maschine funktioniert, aber das ist sie bei weitem nicht. Studien auf dem Gebiet der Einzelzellbiologie haben gezeigt, dass die Genexpression von Natur aus ein verrauschter Prozess ist, bei dem Zellen mit identischem genetischen Hintergrund Gene auf sehr unterschiedliche Weise exprimieren können, was zu einer Form von zellulärer Individualität führt. Die Zell-zu-Zell-Variabilität der Menge an Genprodukten wird als "Expressionsrauschen" bezeichnet, und es wurde gezeigt, dass sich dieses Rauschen von einem Gen zum anderen innerhalb des Netzwerks ausbreitet und möglicherweise noch verstärkt.

Hochdurchsatzuntersuchungen der Genomik auf Einzelzellebene haben außerdem gezeigt, dass Gene in Bezug auf das Ausmaß des Rauschens, welches sie aufweisen, stark variieren: Einige werden mit hoher Genauigkeit exprimiert, während andere viel weniger vorhersehbar sind. Diese große Variation des Rauschens innerhalb des Genoms legt nahe, dass das Expressionsrauschen durch natürliche Selektion geformt wird, aber wie die Selektion auf Gene in Netzwerken wirkt, ist weitgehend unbekannt.

In silico Evolution von Gennetzwerken

Eine neue Studie von Nataša Puzović, Tanvi Madaan und Julien Dutheil vom Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön untersucht die Evolution des Expressionsrauschens in Genregulationsnetzwerken mit einem rechnerischen Ansatz. Sie führten ein In-silico-Evolutionsexperiment durch, bei dem sie Tausende von Populationen von Modellgenregulationsnetzwerken erzeugten und ihre Entwicklung über mehrere Generationen hinweg simulierten.

Die Forscher fanden heraus, dass das entwickelte Ausmaß des Rauschens eines Gens stark mit seiner Position im Netzwerk korreliert ist. Zentrale, stark vernetzte Gene, die andere Gene regulieren, entwickeln eine stark deterministische Genexpression, während periphere Gene, die am Ende der Regulationskette stehen, eher unvorhersehbar sind.

Das Modell der Gennetzwerke erlaubt es, trotz notwendiger Annäherungen, komplexe Auswirkungen der Netzwerkstruktur zu entschlüsseln. Die Autoren zeigen, dass globale Netzwerkmerkmale das durchschnittliche Rauschen im Netzwerk beeinflussen, was darauf hindeutet, dass die gesamte Netzwerktopologie bei der Untersuchung des Expressionsrauschens nicht außer Acht gelassen werden sollte.

Ein Domino-Effekt

Die hier beschriebene Studie zeigt, dass die Selektion auf der Netzwerkebene, um eine bestimmte zelluläre Funktion auszuführen, zu einem unterschiedlichen Selektionsdruck auf das Expressionsrauschen einzelner Gene führt und dass dieser Effekt durch die Struktur des Netzwerks selbst moduliert wird. Er schlägt die Rauschausbreitung als den zugrunde liegenden Mechanismus für die beobachtete Variabilität des Expressionsrauschens in den Genomen von Organismen vor. Dies kann als ein Beispiel für den Dominoeffekt verstanden werden: Wenn ein zentrales Gen verrauscht ist, sind alle anderen angeschlossenen Gene betroffen und das gesamte Netzwerk bricht zusammen. Im Gegensatz dazu hat ein Dominostein, der am Ende der Kette fällt, nur sehr geringe Auswirkungen. Folglich ist die Last der Reduzierung des Expressionsrauschens auf der Netzwerkebene für Gene, die andere Gene kontrollieren, größer.

Diese Studie zeigt, dass die Berücksichtigung der Selektion auf mehreren Organisationsebenen notwendig ist, um die Evolution von Lebensformen zu verstehen, die aus vielen interagierenden Komponenten bestehen. Sie zeigt außerdem, dass die natürliche Selektion nicht nur auf die mittlere Expressionsebene einwirkt, auf die sich die Molekularbiologie seit einem halben Jahrhundert konzentriert, sondern auch auf deren Varianz und Heterogenität, eine Dimension, die wir erst mit dem Aufkommen der Einzelzell-Omics vollständig zu entschlüsseln beginnen.

Verstehen, wie Gene funktionieren

Ein grundlegendes Ziel der Biologie ist es, heraus zu finden wie Gene zusammenarbeiten, um einen funktionierenden Organismus zu schaffen. Dabei ist es wichtig zu verstehen, wie Veränderungen dieser Gene zu Krankheiten oder im Umkehrschluss zu Krankheitsresistenz führen können. Nur so ist es möglich neue Wege für neue Behandlungsansätze und -methoden zu ebnen. Die Betrachtung der einzelnen Gene kann nicht isoliert stattfinden, vielmehr ist es wichtig das Zusammenspiel dieser als System zu betrachten und zu verstehen. Ebenso dürfen wir den Aspekt, dass solche Systeme das Ergebnis von Millionen von Jahren der Evolution sind, nicht außer Acht lassen. Computermodelle, wie sie in der hier beschriebenen Studie verwendet werden, die sowohl unser Wissen über die Molekularbiologie als auch über evolutionäre Prozesse integrieren, sind der Schlüssel zu diesem Ziel.

Zur Redakteursansicht