Die Evolution doppelseitiger sozialer Normen
Neben der Beschreibung biologischer Interaktionen ist die Evolutionstheorie auch zu einem wertvollen Instrument geworden, um die Dynamik sozialer Normen zu verstehen. Soziale Normen bestimmen, welche Verhaltensweisen als positiv angesehen werden und wie sich die Mitglieder einer Gemeinschaft untereinander verhalten sollten. In einer neuen Arbeit beschreiben Forscher des RIKEN Institut, Japan, und des Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön, eine neue Klasse von sozialen Normen für kooperative Interaktionen. Diese Normen gelten nicht nur für aktive Individuen, die sich für eine bestimmte Handlung entscheiden, sondern auch für passive Individuen, die von diesen Handlungen profitieren oder einen Schaden erleiden.
Soziale Normen spielen im täglichen Leben der Menschen eine wichtige Rolle. Sie regeln, wie sich Menschen verhalten sollten und wie sich der Ruf auf der Grundlage früherer Verhaltensweisen bildet. In den letzten 25 Jahren hat man sich bemüht, diese Dynamik der Reputation formaler zu beschreiben, indem man mathematische Modelle aus der evolutionären Spieltheorie verwendet hat. Diese Modelle beschreiben wie sich soziale Normen im Laufe der Zeit entwickeln - wie sich erfolgreiche Normen in einer Gesellschaft verbreiten können und wie schädliche Normen mit der Zeit verschwinden.
Die meisten dieser Modelle gehen davon aus, dass der Ruf einer Person nur davon abhängen sollte, was diese Person in der Vergangenheit getan hat. Alltagserfahrungen und experimentelle Belege deuten jedoch darauf hin, dass zusätzliche externe Faktoren den Ruf einer Person durchaus beeinflussen können. Menschen erwerben einen Ruf nicht nur durch ihr Verhalten, sondern auch dadurch, mit wem sie interagieren und welche Auswirkungen diese Interaktionen haben. So haben Forscher der Harvard University in einer Reihe von Experimenten gezeigt, dass Opfer schädlicher Handlungen oft als tugendhafter angesehen werden, als sie es tatsächlich sind. Um solche Phänomene formaler zu erforschen, haben Forscher am MPI für Evolutionsbiologie in Plön und am RIKEN in Japan eine neues mathematisches Modell zur Beschreibung sozialer Normen entwickelt.
Kooperative Interaktionen
Wenn die Handlung einer Person das Wohlergehen eines anderen Gruppenmitglieds beeinträchtigt, kann der Ruf beider Individuen aktualisiert werden, so das neue Modell. Anhand dieser allgemeinen Annahme untersuchen die Forscher, welche Eigenschaften solche Normen haben sollten, um kooperative Interaktionen zu unterstützen. Überraschenderweise haben einige dieser sozialen Normen tatsächlich die Eigenschaft, die in den früheren Experimenten beobachtet wurde: Wenn ein Individuum einem anderen schadet, sollte sich der Ruf des Opfers verbessern.
Darüber hinaus beobachten die Forscher auch einen grundlegenden Zielkonflikt. Normen, die die Zusammenarbeit besonders gut unterstützen, sind tendenziell weniger robust gegenüber Störungen (z.B. wenn der Ruf durch Klatsch und Tratsch Dritter geprägt ist).
Insgesamt ist diese Arbeit Teil einer größeren Anstrengung, die Schlüsseleigenschaften sozialer Normen auf formale Weise zu verstehen. Diese Studien geben Aufschluss darüber, welche ökologischen und sozialen Umgebungen die Zusammenarbeit erleichtern und welche Auswirkungen soziale Normen im Allgemeinen haben.